Esslingerinnen erzählen ihre Geschichte
Ein Beitrag von Barbara Deißenberger, erschienen in ESSLING Nr. 6 - ein stadtteilmagazin (sommer 22, S. 32-33)
Stadt ist nicht nur das Gebaute, die Häuser und Plätze. Stadt und das Leben in der Stadt entstehen durch die Menschen und ihre Geschichten! Das Projekt tell your own story macht jenen Teil der Stadt zwischen den Häusern – quasi zwischen den Zeilen der Stadt, der durch Begebenheiten, Erlebnisse, zwischenmenschliche Momente, Emotionen uvm. entsteht, spürbar und damit für andere erlebbar.
Was ist deine erste Erinnerung an Essling oder deinen Lieblingsort hier? Was empfindest du, wenn du dich an diesen Ort begibst? Wie hat sich dieser Ort nun für dich verändert? Das sind nur einige von vielen Anregungen, die Teilnehmende des Projekts „tell your own story“ in Begehungen und einem Literaturworkshop bekommen.
Bereits das Vorgängerprojekt „Text verändert Stadt“ war an der Schnittstelle zwischen Stadtplanung und Literatur angesiedelt. Es zeigte als künstlerisches Experiment 2020, wie Literatur Stadt verändern kann. Aus den damals entstandenen Texten wurden unterschiedlichste Ideen räumlich umgesetzt und in einer Ausstellung in Essling präsen-tiert. Sabine Gstöttner rief die erste Ausgabe der „Literaturpresse“ ins Leben, wo die Texte veröffentlicht wurden. Dieses Konzept wird nun fortgeführt. Auch bei „tell your own story“ wird es Lesung, Ausstellung und eine Veröffentlichung der Texte in der „Literaturpresse“ geben.
Nun sind der erste Eindruck und die eigene Geschichte gefragt, die man mit dem Stadtteil Essling verbindet. Egal, ob man hier geboren oder hierher gezogen ist, hier arbeitet oder zur Schule geht. Erinnerungen, Eindrücke und Entdeckungen wurden quer durch alle Generationen gesammelt: von Kindern über Jugendliche bis hin zu Pensionistinnen. Denn das Leben in der Stadt entsteht durch Menschen und ihre Geschichten. Mit „tell your own story“ wollen Stadtplanerin Sabine Gstöttner und Schriftstellerin Barbara Deißenberger jenen persönlichen Bezug zu einem Ort, der durch individuelle Wahrnehmung, Erlebnisse, zwischenmenschliche Momente, Emotionen und Begeben-heiten entsteht, für andere zugäng-lich und erlebbar machen. "Zeichne einen Plan des Orts deiner ersten Erinnerung in Essling!", hieß es also zunächst für die Teilneh-menden. Dabei kommt es weder auf geometrische Genauigkeit, noch auf künstlerische Gestaltung an. Vielmehr spiegelt so ein Plan wider, was einem wichtig ist und im Zentrum steht. Eine gute Vorübung für die anschließende Beschreibung des gewählten Orts aus der Erinne-rung! Mit dieser spannte man den Bogen zur Gegenwart. Nun wurde vor Ort nachgespürt: Was höre ich, fühle ich, rieche ich? Und ausprobiert: Wie kann ich den Ort auf eine für mich unübliche Weise nutzen? Auch mit dem „Faden der Ariadne“ gab Sabine Gstöttner ein spannendes Raumspiel vor: Anhand welcher Elemente orientiere ich mich in der Umgebung? Sind es unbekannte Wege zu einem bekannten Ziel, die ich entdecken möchte? Ist es die umgebende Natur, jeder Baum und Strauch, auf die ich achte? Sind es Bänke im Park, die ich ansteuere oder bestimmte Treffpunkte im Schulvorhof, wo Freunde warten? Mit Notizbuch, Kamera und durch diese Fragen geschärfte Aufmerk-samkeit gingen die Teilnehmenden auf Spurensuche. Die Kinder wur-den dabei von ihren Klassenlehrern begleitet. Ob sie bei der Esslinger Furt die Springkünste eines Eichhörnchens bewunderten oder beim Schüttkasten geheimnisvolle Spuren der Vergangenheit entdeckten, alles ist Material für Literatur. Bei der Aufforderung, etwas zu ma-chen, was sie an dem gewählten Ort noch nie gemacht hatten und beim „Ariadne“-Spiel, zeigten gerade die Kinder ihre unglaubliche Kreativität und einen Blick für Details. Da wurde ein Stein aufgehoben, was man mit genau diesem Kieselstein noch nie gemacht hat, dort wurde ein abgebrochener Ziegel mit zwei eingeprägten Buchstaben gefunden, man achtete auf Wurzeln, die Farbe des Holzes, Biberbauten und Türen, die einen Spaltbreit offen standen. Für die Kinder war es ein kleines Abenteuer, das sie in ihren Texten weiter (er)leben dürfen.
Bereits jetzt bilden die bisher vorhandenen Beiträge ein Mosaik aus Gassen, die noch nicht asphaltiert sind, Unbeschwertheit im Grünen, Jugendlichen-Treffpunkten im Park, Bäckern, die auf Pferdewagen kom-men, Hoffnungen und Erwartungen an eine neue Beziehung im neuen Wohnort, Feldern, die nun verbaut sind, Faszination durch die Lobau, Gutshöfen, GreißlerInnen und Gasthöfen, die es nicht mehr gibt, sowie Enttäuschungen, Entwicklungen und persönlichen Kämpfen ums Glück – kurz, all das, was das Leben mit anderen an einem Ort ausmacht. Durch das Projekt „tell your own story“ treffen in Essling Gegenwart und Vergangenheit, äußeres und inneres Geschehen und – nicht zuletzt – die Menschen selbst mit ihren Geschichten zusammen. Die kreative Beschäftigung mit einem gemeinsamen Thema und die ab-schließende Veranstaltung schaffen Möglichkeiten für neue Netzwerke, Bekanntschaften und Freundschaften. Der Stadtraum wird temporär durch Textpräsentation und Ausstellung verändert. Bleiben werden neue Perspektiven quer durch alle Generationen, ein veränderter Blick auf Wege, Plätze und Bauten und auch, dass manch eine, die bis jetzt dem Schreiben nicht so zugetan war, nun vielleicht die Lust am Erzählen entdeckt hat. Weitere Projekte in diese Richtung werden folgen!
AUSSTELLUNG: 11.-12. Juni 2022 in ganz Essling
LESUNG: Freitag, 10. Juni 2022, 17-19 Uhr in der Queen Essling, Esslinger Hauptstraße 63
FÜHRUNG durch die Ausstellung (zu den beschriebenen Orten): Sonntag, 12. Juni, 11-13 Uhr, Treffpunkt: GTVS Kirschenallee (Viktor-Wittner-Gasse 50)
Anmeldung zu Lesung und Führung bitte an info@treffpunktessling.at
In Zusammenarbeit mit Kultur im Wohnzimmer, Esslinger Schreibfreu(n)de, BG und BRG Simonsgasse: Wahlpflichtfachgruppe Deutsch mit Katja Kohl, Volksschule Kirschenallee: 1M mit Beatrix Kusztrich, 2M mit Julia Steurer und Christine Zastera, 1A mit Tina Kopp, 3A mit Lukas Sternik
Das Projekt wird gefördert aus den Mitteln von Basis.Kultur.Wien, Wiener Volksbildungswerk.
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