Als Mensch, der in Wien geboren und aufgewachsen ist, kennt man Eßling natürlich. Also der Name sagt einem was. Man weiß nicht genau, wo es liegt, aber irgendwo „da drüben“. 22,3 Kilometer sind es, von der Adresse in Wien, wo ich aufgewachsen bin, nach Eßling. Das letzte Eck Wiens, bevor es nach Niederösterreich geht.
Ich frage ein paar Freund*innen, die in Wien leben, aus Ottakring, Oberösterreich, Deutschland. Ja, Eßling kennen sie. Ist es noch Wien oder schon Niederösterreich? „Das ist doch der letzte Stadtteil von Wien, der eingemeindet wurde?“ So sicher sind wir uns da alle nicht.
Während ich in der U2 Richtung Donaustadt fahre, öffne ich Google Maps. Vom Zentrum Eßlings sind es 1,7 Kilometer zur niederösterreichischen Grenze. Knapp 20 Minuten zu Fuß, also ca. so lange wie ich von meiner Wohnung zum Ring brauche. Die nächste U-Bahnstation ist die Endstation der U2, Seestadt Aspern, 2,8 Kilometer entfernt, 34 Minuten zu Fuß. Man ist schneller in Niederösterreich als bei der U-Bahn. Google Maps sagt mir, dass ich schneller in Eßling bin, wenn ich bei der Aspernstraße aussteige und dann den Bus nehme.
Ich steige also bei der U-Bahnstation Aspernstraße aus. Ich glaube, zum ersten Mal seit den fast 30 Jahren, die ich – mit Unterbrechungen – in Wien lebe. Ich suche die Busstation vom 26a und finde sie nicht. Dafür sehe ich den 98a in der Station stehen, oben steht „Eßling, Schippanisiedlung“. Keine Ahnung wo die Schippanisiedlung ist, aber Eßling klingt richtig, also riskiere ich es und steige ein. In Zeiten von Corona ist es fast schon ein Abenteuer, in einen unbekannten Bus mit unbekannter Endstation zu steigen.
Der erste interessante Punkt, der mir bei der Busfahrt auffällt, ist der „Asperner Heldenplatz“. Natürlich muss man das „Asperner“ betonen, sonst würde man ihn ja mit dem anderen Heldenplatz verwechseln. Vom Heldenplatz in der Innenstadt zum Asperner Heldenplatz sind es ca. 12 Kilometer, zweieinhalb Stunden würde man brauchen, ginge man zu Fuß. Schön ist es da, das begrünte Denkmal und der Park vor der Schule. Aber ganz anders als der „richtige“ Heldenplatz, den ich gut kenne.
Der Bus biegt ab, auf ruhigere Straßen, Gassen wohl eher. „Heustadelgasse“ steht auf dem Straßenschild, auch der Name sagt mir was. Keine Ahnung wieso. Wir biegen wieder ab und auf einmal sieht es fast nicht mehr nach Wien aus. Auf der einen Seite Einfamilienhäuser, auf der anderen Seite ein Feld. Die Busstation ist nur ein Schild, das im Boden steckt. Gehsteig gibt es auf dieser Seite keinen mehr, die zwei Personen, die aussteigen, wechseln schnell auf die andere Seite. Busstationen ohne Wartehaus, Straßen, die keine Gehsteige haben und Felder – das alles assoziiere ich schon stark mit ländlichem Raum.
Ich steige bei der Station „Schule“ aus. Vor der Schule ist ein kleiner Park. Ist das das Eßlinger Zentrum? An der Eßlinger Hauptstraße ist in der Richtung, aus der ich komme, ein Kirchturm zu sehen, also muss es das Zentrum sein. Die Schule sieht etwas heruntergekommen aus, auf einer Seite bröckelt die Fassade ab. Der Straßenlärm ist hier sehr laut, auf einer Parkbank länger verweilen und entspannen, scheint nicht wirklich verlockend. Also mache ich mich auf den Weg zur Kirschenallee, die dürfte hier so etwas wie das Highlight sein. Ich gehe eine kleine Gasse hinein, biege noch einmal um die Ecke. Auf einmal fällt mir auf, dass man den Straßenlärm von der Hauptstraße kaum noch hört. Wie weit bin ich jetzt gegangen? 300 Meter höchstens, und schon ist die Geräuschkulisse eine ganz andere.
Und dann sehe ich die Kirschenallee: sie hält, was sie verspricht. Eine lange Reihe an weiß-rosa blühenden Kirschbäumen. Statt Straßenlärm hört man Fußtritte und Reifen von Kinderfahrrädern auf dem unbefestigten Weg, der zwischen den Kirschbäumen hindurchführt. Wieder eine Schule hier, 850 Meter entfernt von der anderen Schule an der Hauptstraße. Wenn ich noch einmal Kind wäre, würde ich lieber in die Schule hier an der Kirschenallee gehen. Es ist ruhiger, sicherer und grüner.
Ich folge der Kirschenallee Richtung Süden. Google Maps verspricht, dass diese an die Lobau anstößt.
Eineinhalb Kilometer sind es, von der Eßlinger Hauptstraße bis man „unten anstößt“ – im Naherholungsgebiet Lobau. Ein weiter Blick auf Felder, Wasser und Bäume: das hat man in Wien nicht oft. Und mittendrin ein riesiger Strommast, der die Hochspannungsleitung an Eßling vorbei trägt. Auch dieses Bild kenne ich nicht aus städtischer Umgebung.
Ich setze mich auf eine Bank und schaue wieder auf mein Handy. Ich zoome bei Google Maps etwas raus und Bratislava erscheint auf meinem Bildschirm. Mit dem Regionalexpress wäre ich in knapp 50 Minuten dort, sprich, genauso lange wie ich heim nach Hietzing brauchen würde.
War das jetzt Eßling? Habe ich ganz Eßling gesehen? Es ist auf jeden Fall ein anderes Wien als das, was mir vertraut ist. Trotzdem ist vieles gleich: Autolärm habe ich am Gürtel genauso, Einfamilienhaussiedlungen kenne ich aus dem 13. und 23. Bezirk auch recht gut. Aber es fühlt sich doch anders an, mit dem Rad schnell in die Lobau runterfahren oder zu Fuß nach Niederösterreich spazieren zu können.
Fast hat es sich ein bisschen wie eine Reise, wie ein Urlaub angefühlt. Eine unbekannte Gegend erkunden, Details, wie die Geräuschkulisse wahrnehmen, die einem an einem vertrauten Ort gar nicht mehr auffällt. Längere Strecken zu Fuß zurücklegen, da man dabei am besten beobachten kann. Aufmerksamer, aber auch kritischer sein. Vergleichen mit anderen bekannten Orten.
Was zu einem entspannten Urlaubstag allerdings gefehlt hat, war gemütlich einen Kaffee auf einem ruhigen Hauptplatz in der Sonne genießen zu können. Eßling, wo ist dein Hauptplatz?
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